2020

Abdruck der Abiturrede unseres Scheffelpreisträgers Matthias Bär, die er anlässlich der Zeugnisübergabe gehalten hat.

Sehr geehrter Herr Obermann, sehr geehrte Lehrerinnen und Lehrer, liebe Mitschülerinnen und Mitschüler und – wenn auch in Abwesenheit – liebe Eltern,

12 Jahre Schule liegen hinter uns. Wir können auf viele schöne Momente zurückblicken und haben so viele gute Erinnerungen, dass ich gar nicht erst versuchen brauche, sie alle aufzuzählen – ohnehin hat ja jeder seine ganz persönlichen Highlights.

Auf der anderen Seite gibt es die Erinnerungen, die wir lieber schnell verdrängen:

Erinnerungen an manchmal 10 h lange Schultagen oder die ein oder andere verhauene Klausur, an Dinge, die wir jetzt getrost ausblenden dürfen oder sogar sollten, damit auch wir in 10 Jahren in Nostalgie schwelgen und seufzen können „Ach, die Schulzeit war doch die schönste Zeit.“ Vergessen sollten wir also das, worauf der Satz zutrifft „schlechte Erinnerung, daran zu denken bringt mir keine Vorteile, also hält man sich besser nicht mehr mit den Gedanken daran auf“.

Ist es dann aber nicht seltsam, dass auch Teile des Wissens, welches wir uns im Laufe der 12 Jahre angeeignet haben, schon wieder vergessen oder verdrängt worden sind? Und dass dem so ist, will hoffentlich keiner bestreiten. Man stelle sich nur einmal vor, wir müssten heute, am Tag der Zeugnisverleihung, eine Arbeit aus 11/1 schreiben… das Ergebnis will ich mir nicht ausmalen.

Warum ist das so? Da muss man sich doch fragen: Hatte dieses schon wieder vergessene Wissen jemals eine Bedeutung für uns, einen Wert, und: Wenn wir jetzt schon so vieles wieder vergessen oder verdrängt haben, was war jemals unser Antrieb, es zu lernen?

Sicherlich nicht jeder von uns hat ganz bewusst über dieses Thema nachgedacht, trotzdem glaube ich, dass wir alle uns schon mehr damit auseinanderzusetzen hatten als die Jahrgänge zuvor. Denn wer, wenn nicht wir, musste über einen längeren Zeitraum hinweg die Motivation für die Abiturvorbereitung selbst aufbringen, musste jeden Tag unter ohnehin außergewöhnlichen Umständen auch noch aus eigenem Antrieb Dinge für die Schule erledigen. Ich möchte nicht viele Worte über Corona verlieren, aber das mehrmonatige Zuhausebleiben – oder zumindest Fernbleiben von der Schule – steht insofern in engem Zusammenhang mit dem Thema des Lernens und der Wissensvermittlung, als sich in der Zeit des Lockdowns den meisten von uns Fragen bezüglich ihres oder seines Verhältnisses zu Schule und Lernen gestellt haben dürften.

In der Zeit zuhause hat jeder unterschiedlich viel… oder auch wenig…für die Schule gemacht, jeder hat sich anders beschäftigt (um genauer zu erfahren, wer was während Corona getrieben hat, verweise ich gerne auf unsere Abizeitung) aber eines hatten doch viele von uns gemeinsam: enorme Schwierigkeiten, auch nur irgendetwas für die Schule zu tun. Sicherlich schwankend von Fach zu Fach, aber was führte dazu, dass es insgesamt gerade in dieser Zeit so schwerfiel, zu lernen?

Zum einen bringt ein so plötzlicher Lockdown natürlich psychische Belastungen mit sich, welche die Ausrichtung auf die Schule nicht gerade erleichtern.

Die zweite, mindestens genauso wichtige Ursache für den Lernverdruss war die offensichtlichste. Das Abitur rückte in weite Ferne, wir mussten nicht mehr in die Schule und somit konnte auch nicht mehr kontrolliert und dann mithilfe von Zahlen zwischen 1 und 15 kategorisiert werden, was ein Aufsatz von einem von uns wert ist.

Wie gesagt, es mag offensichtlich erscheinen, dass das Lernen nachlässt, wenn es die Angst vor oder die Hoffnung auf bestimmte Noten ebenso tun.

Wir sollten uns allerdings, und das ist mir wirklich ein Anliegen, der Tragweite dieser Erkenntnis bewusst werden. Denn – und ja, jetzt sind wir als Schüler mal mit dem Bewerten an der Reihe - wie viel wert kann Wissen schon sein, das wir um einer Note willen im Kopfbehalten, nicht aber wirklich verinnerlichen, nämlich weil wir von Herzen daran interessiert wären?

Etwas, das wir für eine Note lernen, lernen wir nicht für unser Leben. Und das trifft gleich in zweierlei Sinne zu. Zum einen wird keinen von uns etwas ein Leben lang prägen, was wir nur für eine Leistungsabfrage gelernt haben, zum andern wird derartiges Wissen gar nicht irgendeine Form von Leben prägen, da es nur Mittel zum Zweck ist. Der Zweck sind Noten, ein äußerer Anreiz, eine extrinsische Motivation.

Was passiert, wenn diese wegbricht, zeigt die Corona-Zeit: Keine Klausuren, Abi verschoben, Ende mit Lernen.

Natürlich kamen auch die bereits erwähnten psychischen Belastungen hinzu. Aber gerade hier muss man dann einwenden: wenn solche uns vom Lernen abhalten, zeigt das doch noch viel mehr, dass wir nicht ausreichend „fürs Leben“ lernen! Denn wenn wir nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen würden, hätte uns dann nicht gerade während einer psychisch belastenden Zeit das Wissen, die in der Schule gelehrten Kompetenzen weitergeholfen? Eine 12 Jahre währende Ausbildung, in der ein riesiger Teil unserer Entwicklung abläuft, hat auch die Verantwortung, uns auf schwierige Situationen des Lebens vorzubereiten - und damit meine ich keine kniffligen Rechenaufgaben.

Gerade während Corona hätte es geholfen zu wissen: Wie strukturiere ich komplett freie Tage? Wie gehe ich damit um, wenn ich auf nichts anderes Lust habe, außer im Bett zu liegen und Netflix oder YouTube zu schauen? Aber auch noch grundsätzlichere Fragen, die das eigene Weltbild betreffen: Wie finde ich Sinn in dem, was ich tue? Auf was darf ich in meinem Leben hoffen? Die Antworten auf solche Fragen sind es, die das Weltbild einer Person ergeben und so einen jungen Menschen zu einer einzigartigen Persönlichkeit wachsen lassen, die auch in schwierigen Zeiten, die für jeden von uns irgendwann kommen werden, Halt findet.

Solange jene Fragen nur eine untergeordnete Rolle spielen in der Schule, ist diese noch weit davon entfernt, den Menschen - mit seinem fragenden Wesen - als Maßstab für Bildung zu nehmen. Im Gegenteil: Wir bekommen mehr Antworten auf Fragen, die sich beim besten Willen noch nie einer von uns gestellt hat, als auf die Fragen, die sich jeder Mensch stellt.

Dass wir zum großen Teil keine innere, sondern nur eine äußere Motivation zum Lernen haben, hängt also teilweise damit zusammen, dass unser Lernen die ganze Zeit durch Leistungsabfragen, extrinsisch motiviert wird, zum anderen aber auch damit, dass die Schule um einen beachtlichen Teil des für die Persönlichkeitsentwicklung relevanten Wissens einen großen Bogen schlägt, mit den Fragen, mit denen jeder einmal konfrontiert wird, auf die ja nicht einmal konkrete Antworten erwartet werden (können), sich nur sehr bruchstückhaft befasst.

Bei aller Kritik müssen wir aufpassen, nicht die falschen zu treffen. Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Lehrer, als Teil des Schulsystems, sich an einer anderen Priorität orientieren müssen; oberstes Ziel ist, dass jeder Schüler mit einem Abitur das Gymnasium verlässt. Dieser Verantwortung sind Sie, liebe Lehrerinnen und Lehrer, gegenüber jedem einzelnen von uns gerecht geworden: Unser ganzer Jahrgang hat das Abitur bestanden. Dafür möchte ich mich im Namen der ganzen Stufe herzlich bedanken.

Bei aller Kritik möchte ich außerdem nicht all das Gute unterschlagen, was aus der Schulzeit bleibt. Wir können uns ja hoffentlich alle auch noch an viele schöne, interessante, bereichernde Unterrichtsstunden erinnern. Wenn ein Thema die Klasse bzw. den Kurs begeistern konnte, sich eine Diskussion ergab, vielleicht sogar mit einem Lehrer, der den Mut hatte, weder seine eigene Meinung noch seine eigene Begeisterung zu verbergen, der vielleicht auch für eine Stunde außer Acht ließ, dass der Lehrplan schon die Abhandlung des nächsten Themas vorsah.

Ich möchte noch einen Gedanken anfügen, der sich vor allem an Sie, liebe Lehrerinnen und Lehrer, richtet, da durchaus auch jeder Schüler die Stunden erlebt hat, in denen nicht ansatzweise versucht wurde, dem Vermitteln der Inhalte oder diesen selbst einen Sinn zu geben: Ich denke doch, dass jedem von Ihnen, liebe Lehrer, Ihr Fach am Herzen liegt. Dann wiederum ist es doch nicht nur Herausforderung, sondern auch geradezu höchstes Glück Ihres Berufes, die Begeisterung für ein Fach und nicht nur das Wissen des Fachs weiterzugeben. Mithilfe von Noten in der Hinterhand ist Wissensvermittlung nicht schwer, mit Verweis auf die „Klausurrelevanz“ bekommt jeder jeden zum Lernen - ist ja auch gut, weil effektiv. Wenn aber wahres Interesse erreicht wird, so wird das Wissen wirklich verinnerlicht, die Schüler haben mehr Freude und jeder Lehrer, der sein Fach liebt, kann in solchen Momenten hoffentlich Erfüllung finden.

Dass im Unterrichtsalltag nicht viel Platz für derartigen Idealismus ist und damit auch an mancher Stelle der Raum für die Diskussion weiterführender Fragen fehlt, ist verständlich, denn im Moment wird die Schule ja meist von der gegenteiligen Kritik unter Druck gesetzt. Man lerne keine Steuererklärungen zu machen, kein Geld anzulegen, auf die digitale Welt sei man sowieso nicht vorbereitet. Ich will all´ dem nicht widersprechen, aber es muss klar gesagt werden:

Auf diese Weise würde sich das Schulsystem noch mehr in die Richtung einer Institution entwickeln, die den Menschen immer früher auf das Funktionieren in einer Leistungsgesellschaft vorbereiten will.

Noch mehr wäre jedes Fach danach zu beurteilen, wie nützlich es für die Nützlichkeit des Menschen sei.

Noch mehr müsste alles nur dazu dienen, sich im Leistungskampf des Arbeitsmarktes behaupten zu können. – Leistungskampf… Kampf... Kampf?

Leben wir eigentlich in der Steinzeit? Wir könnten es uns heute mehr denn je erlauben, dass Bildung uns glücklich, uns zu vollwertigen Persönlichkeiten macht, die selbst entscheiden können, welchen Interessen sie im Rahmen ihrer Schullaufbahn nachgehen wollen, im Rahmen einer Bildung, die nicht nur unsere Ellenbogen für das gesellschaftliche Leben stärkt. Stattdessen wird der Kreislauf von Vergleichs- und Konkurrenzdenken am Laufen gehalten, indem versucht wird, jede Generation noch ein bisschen besser als die vorherige auszubilden, sie auf den harten Kampf um Plätze in Unternehmen vorzubereiten.

Sehr interessant ist, dass gerade diese Unternehmen, deren Ansprüchen der fertige Schüler genügen soll, bereits eine wichtige Sache, eine fundamental andere Art der Motivation erkannt haben, die im heutigen Schulsystem noch keinen Platz findet. (Indem ich diese Unternehmen nun als Beispiel heranziehe, sollte wohl klar sein, dass ich nicht rein moralisch argumentieren, die armen Schülerseelen beklagen will. Es geht mir genauso sehr um das Wissen an sich und dessen Vermittlung.) Wenn man den Begriff „ Unternehmenskultur“ zusammen mit dem englischen Wort „purpose“, dem Wort für Zweck, Bestimmung, bei Google eingibt, findet sich eine riesige Menge an Artikeln, aus denen hervorgeht, dass Mitarbeiter, denen vom Unternehmen vermittelt werden kann, was Zweck, was tieferer Sinn ihrer Arbeit ist, was sie damit bewirken, viel besser arbeiten. Und das ist es, was in der Schule fehlt, denn wir Menschen machen nun einmal ungern Dinge, in denen wir den Sinn nicht sehen. Es reicht auch nicht die Existenz eines Sinnes, den sich jeder selbst über 10 Ecken zurechtschustern kann, à la: „Ich lerne, weil ich gute Noten will. Ich will gute Noten, um ein gutes Abi zu machen. Ich will ein gutes Abi, weil ich Medizin studieren will, weil ich Arzt werden will, weil ich viel Geld haben will, weil ich glaube, dass ich dann glücklich bin.“

So lässt sich zwar logisch begründen, warum es vielleicht angebracht wäre, zu lernen, aber wie viel größer ist die Motivation, wenn der Sinn in der Sache selbst liegt? Und wie schade, wenn das nicht gelingt!

Kindheit und Jugend sind zu schade, um sie gegen Zukunftschancen einzutauschen.

Aber das muss auch gar nicht sein. Es kann gelingen, den Sinn im Lernen zu vermitteln. Dazu muss das Lernen das Gegenstück zu einem Bedürfnis von Schülern sein. Im Fall der Schule heißt das: Es muss gelingen, dass der Unterricht auf die Fragen antwortet, die Schüler sich stellen, oder zumindest, dass Schüler sich die Fragen stellen, auf welche der Unterricht eingeht. Mit anderen Worten: Die Kunst des Unterrichts besteht in der Aufrechterhaltung des im Idealfall nie endenden Kreislaufes von Wecken und Stillen von Interesse.

Fatal ist daher, wenn sich die nützliche Konditionierung „Wenn ich lerne, bekomme ich eine gute Note“ radikalisiert, hin zu „Ich lerne, um eine gute Note zu bekommen“. – Der Tod von jedem wahren Interesse.

Schüler sollten sagen können: „Ich lerne das und das - einfach weil es mich interessiert.“ Dann gilt auch im Bezug auf Lernen der Satz, den einst ein weiser Mann sagte:

„Wenn wir tun, was wir tun, einfach nur, um es zu tun, tun wir es gut und es tut uns gut.“

Mit diesen Worten möchte ich auch innerhalb meiner Rede mit dem Thema Schulzeit abschließen und gleichzeitig die daraus gewonnene Erkenntnis für einen Blick nach vorne nutzen.

Zunächst die Erkenntnis: Wir erledigen Aufgaben gerne und auch besser, wenn wir in ihnen Sinn und in uns eine intrinsische Motivation finden. Das trifft auf den Wissenserwerb in der Schule zu, behält seine Gültigkeit aber auch im Hinblick auf unsere berufliche Zukunft.

Daher meine Wünsche für euch:

Ich wünsche jedem von euch, dass ihr einen Beruf findet, der so aussieht, dass ihr, wenn euch jemand fragt: „Warum machst du das?“ genau eine Antwort geben könnt, die ausreicht, um genau euch zufriedenzustellen.

Ich wünsche jedem von euch, dass ihr deswegen auch ganz einfach antworten könnt: „Weil es mir Spaß macht“.

Was ich - gerade an dieser Stelle beziehe ich mich mal mit ein – uns allen natürlich ebenso wünsche, ist einen Beruf, mit dem wir uns finanziell über Wasser halten könnt.

Denen, die sich einen Beruf wünschen, mit dem sie sogar reich werden: Euch wünsche ich, dass ihr auch das schafft!

Vergessen sollten wir nur nie: Geld wünschen wir uns in der Hoffnung, dass es glücklich macht. Aber was ist das wert, wenn es die tägliche Beschäftigung nicht tut? Was ist es dann für ein absurder Umweg, zu sagen: „Ich verzichte auf mein jetziges Glück zugunsten einer „besseren“ Arbeit. Meine Arbeitskraft tausche ich gegen Geld ein und von dem Geld hol ich mir dann mein Glück zurück“?

Das kann sicherlich funktionieren.

Aber ihr versteht jetzt, warum ich euch ganz einfach wünsche, dass euer Beruf selbst euch glücklich macht.

Ich wünsche euch, dass ihr die Sache findet, die ihr liebt und ihr nachgeht.

Ich wünsche euch, dass ihr nach 12 Jahren Schule ab jetzt jeden Morgen aufstehen und sagen könnt: Ich mache heute genau das, worauf ich Lust habe.

Dankeschön!